Neuer Anfang
Das ist wahrscheinlich schon wieder doppelt gemoppelt, wenn ich auf die Überschrift sehe. Aber nach über einer Woche Versuchen, meine Gefühle zu den aktuellen Corona-Lockerungen und meinen Meinungen dazu, zu ordnen und aufzuschreiben, habe ich aufgegeben. Ich bin durcheinander, unsicher und traue mir selbst nicht. Ich versuche also noch mal ganz neu mit dem Denken anzufangen.
Ich befinde mich in einer extrem priveligierten Situation: ich muss keine Angst um meine Existenz haben, weder finanziell noch gesundheitlich (jedenfalls nicht mehr als alle anderen auch, was schon eine Erleichterung ist). Die Kinderbetreuung und das Home schooling sind mit der Arbeit zuhause und im Büro unter einen Hut zu kriegen (dank zwei guten Arbeitgebern meinerseits und einem auch ganz guten bei meinem Mann). Alle in der Familie sind gesund und nur durchschnittlich wirr wegen der Situation.
Das ist die Grundprämisse.
Dazu kam dann (gar nicht so plötzlich) eine große Verunsicherung, als es hieß nun werden erst mal die Geschäfte wieder augemacht, dann die Restaurants und seit letzter Woche geht meine Tochter auch wieder in die Schule. Zweimal in der Woche für je 4 Schulstunden. Und da läuft dann nur wenig/kein? Unterricht sondern Lernzeit. Mit einem Anteil von 0 % Naturwissenschaften, 0 % Kunst oder Musik, 0 % zweite Fremdsprache, zum Glück etwas Gesellschaftswissenschaften. Aber das ist hier ja nicht das Thema. Es bleibt also beim home schooling mit ItsLearning. Soziale Isolation der Kinder? Ist zu vernachlässigen.
Es ist nur das selbe Symtom: es wird nicht wie früher. Erst mal nicht. Und auch auf lange Sicht nicht. Und die Frage ist: wie stehe ich dazu. Ich will nicht zurück auf früher. Da fühle ich mich nicht mehr wohl. Ich habe Angst mich anzustecken und richtig krank zu werden. Anderen und den Menschen in den Pflegeberufen in den Krankenhäusern zur Last zu fallen. und noch schlimmer: andere anzustecken, die dann richtig krank werden. Nicht zu meinen Liebeste zu können, wenn sie krank werden. Unachtsam zu sein und damit andere einer Gefahr auszusetzen.
Ich kann diese Isolation für mich entscheiden, aber wie entscheide ich für meine Tochter? Da wird es schon ambivalent.
Und für meine Eltern und meine Schwiegermutter: alle über 80. Ich entscheide nur für mich, aber es betrifft sie doch auch, wenn ich sage: zu euch komme ich nicht mehr. Auch wieder ambivalent.
Ich will auch in vielen anderen Bereichen nicht zurück zu früher. Ich will nicht mehr so viel kaufen, das ich nicht wirklich brauche. Weniger von vielem reicht nähmlich super aus. Leider steht das dem allgemeinen Konzept von: schnell zurück zum Konsum! entgegen. Ich habe das Gefühl, dass ich nur systemrelevant bin, wenn ich Einkaufen gehe, dauernd irgendwo esse und alles wie vorher mache, nur noch mehr Geld ausgeben und vorsichtig sein, aber nicht zu vorsichtig. Hauptsache der Rubel rollt. Da will ich definitiv nicht hin. Es ist nicht alles wieder gut, weil ich jetzt nach Italien fahren könnte um Espresso zu trinken und da endlich wieder zu LEBEN! Ich lebe hier in der Norddeutschen Tiefebene und wenn das nicht auszuhalten ist, ohne im Sommer die Italiener*innen mit meiner Anwesenheit zu nerven, dann stimmt doch was an meinem Leben nicht. Diese Berichterstattung über die Grenzöffnungen, die immer nur Mittelschichtler zu Wort kommen lies, die endlich wieder Urlaub machen wollten und kaum jemals Leute, die ihre Familie endlich wiedersehen können hat mich so geärgert. Abgesehen davon, das sich so einen Urlaub mal eben leisten zu können längst nicht für alle gilt.
Endlich wieder fliegen können/dürfen. Das war so schön ruhig hier in der Einflugschneise ohne die Flieger. Und was ist nun mit dem Klimawandel und dem downsizing? Drei Monate müssen doch da wohl reichen oder was?
Ich merke in mir diese unheimliche Wut. Wut auf die Bestimmer in Brasilien in den USA für die Tausenden von Toten. Wut auf die Unachsamkeit, die ich bei anderen sehe. Wut auf die Ungerechtigkeiten und Ungleicheiten: wie EIN Problem Menschen so ganz unterschiedlich hart trifft. Wut auf diesen Kapitalismus, wo alles immer wachsen muss, nur die Gerechtigkeit nicht. Nicht schön soviel Wut. Aber ich komme zur Zeit nicht wirklich raus.
Ist das der Neid auf die, die sich weniger Sorgen machen? Oder das Gefühl, dass Rücksicht nehmen mich zum Deppen macht? Oder das Unverständnis, dass nicht alle die Welt wie ich sehen? Oder die Traurigkeit der Einsamkeit? Oder das Gefühl von Hilflosigkeit vor echter Dummheit und Starrsinn?
Also Atmen, Kaffee kochen und in Ruhe trinken und stricken und Dinge erledigen, die schon sehr lange auf Erledigung warten. Ich will der Aluhut-Fraktion und den Autokraten nicht auch noch den Gefallen tun und völlig abdrehen. Aber diese Wut bringt mich nicht weiter und treibt mich auch nicht an. Sie läßt mich verzeifeln.
Darum: wieder den Eintrag von Nachrichten vermindern und meine Mantra des Jahres beherzigen: einen Schritt nach dem anderen.
I miss you people. I miss you my friends.
Und hier zwei Frauen, die es soviel besser sagen als ich: Kate Davies und Stephanie Pearl-McPhee.