April 6, 2017

Statistik

Von katrin101

Tja, einer der Gründe warum es etwas dünn bei den Blog-Posts ist: ich habe mir ja eine Stoffstatistik für diese Jahr vorgenommen. Was kommt rein, was wird vernäht und geht damit raus (aus dem Vorrat) und als Effekt: hoffentlich kommt es insgesamt zu einem Abbau der Vorräte. Pffffff. Hände-in-die-Luft-werfen und hysterisches Gekicher. Ich fürchte dieses Ziel wurde mit der Aufnahme einer Statistik nicht erreicht. Ich habe das Gefühl der Eintrag ist gänzlich unkontrolliert explodiert. Dabei sollte es doch weniger werden. Ich nähe zwar wie eine Wilde, aber der Einkauf übertrifft das locker. Dabei bin ich doch Ökologin (in einem früheren Leben gewesen) und weiss, das mehr Eintrag als Austrag kein nachhaltiges System ist. Und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich hier aus den Stoff-Vorräten Erdöl bildet, weil der Druck dafür nicht reicht. Aber Humus ist möglich, denn es gibt Schichten.

Jetzt aber kein rumgerede und verzögern mehr: ich habe in diesem Jahr schon 55,1 m Stoff gekauft. Es ist mir schon ziemlich peinlich. Daher sieht es in meinem Nähzimmer zur Zeit auch teilweise so aus:

Stapelbildung.

Stapelbildung.

Ich habe allerdings auch schon 22,7 m Stoff vernäht: 1 Kinderfaschingskostüm, 1 T-Shirt und 2 Pullover für meine Tochter, 1 T-Shirt für den Gatten und für mich 3 Raglanshirts, 2 Sweatheart-Tops mit kurzen Ärmeln, eines mit langem Ärmel, eine Jogginghose,  3 verschiedene Pullover, einen Rock und ein Ophelia-Shirt. Ausserdem noch diverse Schlüsselbänder, eine Baybhandtuch und eine kleine Tasche für Babyutensilien.  Aber von einem Abbau der Vorräte kann keine Rede sein.

Es ist der Konsumrausch, das Gefühl: diesen Stoff finde ich nie wieder und den anderen kriege ich nie wieder so günstig. Und das Potential. Viele Stoffe finde ich einfach nur schön, oder besonders, oder ich liebe die Farben oder das Muster. Aber bei jeden Stoff geht es auch immer um die Pläne, das Potential. (Ich höre da immer den inneren Remington Steel: Think of the possibilities…Prägende Szene meiner Jugend ab 33: 49). Oder wie Bowie in Absolute Beginners sagte: Wir verkaufen keine Dinge, wir verkaufen Träume. Und das ist es oft: ich stelle mir abgefahrene Kleider, supergemütliche Pullover und wunderschöne Klamotten vor, die alle perfekt aussehen. Das ist das Potential. In der Realität stelle ich dann fest, dass es nie ganz so perfekt wird, ich wieder auf einen Modetrend reingefallen bin, der an einer Frau  mit dickem Hintern und Größe 42-48 auch mit 100 Anpassungen nicht anzupassen ist oder ich dann einfach ein wunderschönes Kleid habe, mit dem frau aber leider nicht Fahrrad fahren kann (ohne beim Absteigen von selbigen zu fallen).

Das ist natürlich ein Kapitalismus-Grund-System: immer schön kaufen. Und ich bin definitiv nicht frei davon. Stoffe habe ich genug, das weiss ich. Aber Träume und Potential: davon kann ich nicht genug bekommen. Es bleibt ein ständiger Kampf zwischen der Realisierung von Träumen, Praktikabilität und der Erkenntnis, dass ich zuviel habe.

Humus.

Humus, vor sich hin reifend.

Aber langsam bis mittelschnell steigt der Anteil der selbstgenähten Klamotten, die ich trage. Es muss nicht alles nur selbst genäht sein, aber ich habe keine Lust auf schlecht sitzende Mode in trüben Farben, die nur von unterbezahlten Frauen in Bangladesh hergestellt worden sein kann. Ich weiß wie lange ein T-Shirt dauert. Und das ist nicht für EUR 4,50 zu machen. Und es dann gleich nach dem Tragen wieder wezuschmeißen ist eine Sauerei. Bei selbst gemachten Sachen dauert alles immer lange. Diese Sachen zu verschenken oder selber zu benutzen bedeutet für mich Wertschätzung: für die Beschenkten, für die Dinge, die eben ihre Zeit brauchen. Das sind bewußte Entscheidungen, nicht immer effektiv sein zu wollen und zu müssen.

Ja, das ist politsch. Hier auf meinem Blog geht es ums selber machen. Aber nicht nur weil es schöner ist. Sondern weil es ein Akt der Selbstbestimmung ist: wie will ich aussehen? Anders als es für eine dicke fast 50-jährige vorgesehen ist? Oder nur nachmachen, was „die Mode“ vorgibt? Ich glaube, ich will weiter spielen, mich ausprobieren und nicht auf irgendwas festlegen lassen. Und das ist auch politisch.

Und dann geht es für mich auch um Unabhängigkeit: ich kann das selber. Finde ich für mich ganz wichtig. Ich kann mein Fahrrad reparieren, Pflanzen pflegen, Klamotten nähen, die Buchhaltung machen, einen Wissenschaftlichen Text verstehen oder schreiben, mit der Axt umgehen, der Häkelnadel und der Bohrmaschine, Lace-Schals stricken (bei Socken übe ich noch), backen, putzen, eine Steuerprüfung vorbereiten und begleiten und die Küche putzen sowie tausend andere Dinge. Und nichts davon ist weniger oder mehr wert oder wertlos. Oder irgendwie lächerlich, weil es ja nur eine Frauenbeschäftigung ist. Selber machen können macht mich unabhängig. Und auch das ist politisch. Weil: ich kann es selber. Ich muß nicht jemanden schlecht bezahlen, damit er oder sie es macht.

Ich habe viel über den Post von Frau Jule nachgedacht. Und denke schon, dass es auf meinem Blog auch um politische Fragen geht. Weil es um mich geht und ich mache viele Dinge, nicht nur Topflappen (siehe oben). Und vor allem geht es mir auch um Sichtbarkeit. Ich habe das Gefühl, ich komme da draußen in der Welt nicht wirklich vor. Aber hier bin ich da. Und mal ist mir Wolle wichtiger, mal muß ich mich über Gender-Farb-Zuordnungen aufregen und dann wieder geht es um ganz was anderes. Aber ich will eben auch vorkommen: Frau, chronisch krank, nerdig, dick, nicht mehr jung, Musik-verrückt, nicht konventionell schön, Bollywood-Fan, unsportliche Tanzbegeisterte, sesshaft, Nematodenspezialistin, frickelige Buchhalterin, Sammlerin, Mutter, verheiratet, nicht nur hetero , Bücher-liebend und Schoko-abhängig. Und wenn ich da draußen sonst nicht vorkomme, muß ich eben selber raus. Und das ist auch politisch.

Mir geht es hier auch eher um Sichtbarkeit für mich. Keine Ahnung, ob oder was hier andere interessiert. Das ist für mich nicht entscheidend beim Schreiben. Keiner muß das hier lesen. Wenn ich so wütend über die Wahl eines amerikanischen Präsidenten werde, dass ich schon Selbstgespräche führe, dann hat das hier aber definitiv einen Platz. Sehr schön auf den Punkte gebracht von John Oliver: this is not normal. Und ich muss es mir auch immer wieder sagen: das ist nicht normal. Ich will mich an bestimmte Dinge und Aussagen nicht gewöhnen.

Aber ich will auch nicht, dass diesen Deppen in den USA, der Türkei, Syrien oder gar nicht so weit weg die Jungen Alternativen Identitären Idioten (oder wie auch immer die heißen) hier in Bremen (Grusel und würg) alle meine Energie absorbieren. Ich will immer wieder sagen: nein, für mich sprecht ihr nicht und euere Zukunft will ich nicht. Ich kann mir nähmlich eine bessere und buntere vorstellen. Aber gerade in diesen Zeiten und diesen Zuständen, von denen ich nicht erwartet hätte, mich wieder in ihnen bewegen und damit auseindersetzen müsste, ist bunt und Glitzer vielleicht auch ein echtes Statement. Dazu ein perfekter Post von Oonabaloona.

Und daher nun: Glitzer!

Golden Years...

Golden Years…Seufz.

Zusammenfassend kann ich nur sagen: ist vielleicht alles etwas wirr geworden. Aber ich bin echt zu alt, um mich mit irrer Anstrengung zu kompartimentieren. Weder nur Stoffe, noch nur Regt-mich-auf. Mich gibt es als Gesamtpaket. Und eine neue rosa Mütze stricke ich mir auch. Und trage sie auch im Frühling.